WINZER MIT GESCHICHTE

Der Barolo gilt als König der Weine, und das Piemont ist sein Königreich. Reich war die Region am Fuße der Alpen tatsĂ€chlich schon immer, und im Unterschied zu anderen Regionen Italiens hatten hier nicht nur die StĂ€dte, sondern auch die Landbevölkerung etwas davon. Weshalb blieben die piemontesischen Bauern trotz Halbpacht ĂŒberwiegend selbstĂ€ndig und kamen teilweise sogar zu Wohlstand?Markus Blaser beschreibt im Merum Heft 6/2011 diese Entwicklung und erklĂ€rt, warum es fĂŒr Bauern manchmal wichtig ist, Hunde zu töten, und weshalb die Winzerfamilien von frĂŒher – im Gegensatz zur Toskana – meistens auch die heutigen sind. BAROLISTA dankt sehr herzlich dem Autor und dem Verlag fĂŒr die Möglichkeit des Abdruckes dieser hochinteressanten historischen Analyse, die aus einem neuen Blickwinkel das VerstĂ€ndnis der piemontesischen Weine und den dahinterstehenden Menschen erleichtert.

1383 herrscht im Piemont wieder einmal Krieg. Die Region ist nicht nur wegen ihrer strategischen Position zwischen Frankreich und der italienischen Halbinsel hĂ€ufig umkĂ€mpft, sondern auch ihres fruchtbaren Landes wegen: Schon die ersten Bauern betrieben hier wegen der Möglichkeit, die Tiere im Sommer auf den Alpen weiden zu lassen, mehr Viehzucht als Ackerbau. Doch auch dieser entwickelte sich seit dem Hochmittelalter, dank mildem Klima, gezielten Waldrodungen und dem Bau von Be- und EntwĂ€sserungssystemen in den Ebenen. Zu diesem Zweck entließen die Grundherren (Signori) die Bauern aus der Leibeigenschaft und schlossen mit ihnen vorteilhafte PachtvertrĂ€ge ab: Fester Geldzins, nicht selten langfristige Erbpacht und fast immer das Recht, das Land an andere Bauern unterzuverpachten.

Starke Stellung der PĂ€chter

Diese Elemente stĂ€rkten die Position der PĂ€chter gegenĂŒber dem Signore gleich mehrfach. Geldzins setzte voraus, dass die Bauern einen Teil ihrer Erzeugnisse verkaufen durften; sie konnten nicht gezielt vom Markt ferngehalten werden wie in der klassischen Halbpacht der Toskana, die auf Naturalpacht und Selbstversorgung der Bauern beruhte. Mit steigenden Preisen reduzierte sich bei festem Zins auch die finanzielle Last der Pacht fĂŒr die Bauern, wĂ€hrend die Grundherren Einkommensverluste hinnehmen mussten. Denn die langfristige Erbpacht garantierte der PĂ€chterfamilie ĂŒber Generationen dieselben Vertragsbedingungen und erschwerte so die Umwandlung der Geldpacht in Naturalpacht. Das Recht der Unterpacht verwandelte die ehemaligen Leibeigenen schließlich vollends in Grund-Besitzer, die faktisch ĂŒber das Land verfĂŒgten, wĂ€hrend die Grund-EigentĂŒmer nur noch das formaljuristische Recht ĂŒber das Land ausĂŒbten: Bei sĂ€mtlichen Transaktionen musste zwar ihre Zustimmung eingeholt werden, doch durften sie diese nicht ohne Weiteres verweigern. Neben den Signori und mit deren Hilfe war bis zum Ende des 13. Jahrhunderts eine Bauernschicht entstanden, deren Angehörige noch immer als Leibeigene, als „Massari“ (im piemontesischen Dialekt „MasuĂ©â€œ) angesprochen wurden, doch trugen sie diese Bezeichnung mit zunehmendem Stolz als wohlhabende PĂ€chter.

Bauern grĂŒnden StĂ€dte

Anders als in der Toskana vermochten die „Massari“ ihre soziale Stellung ĂŒber Jahrhunderte zu verteidigen und teilweise sogar auszubauen. Erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und mit dem allgemeinen Strukturwandel der Landwirtschaft sind auch die Bauern im Piemont in Schwierigkeiten geraten, die sich jedoch dank der gĂŒnstigeren Startbedingungen in der Regel besser zu meistern wussten. Dabei beruhte die relative StĂ€rke der piemontesischen Bauern auch auf der SchwĂ€che ihrer gesellschaftlichen GegenkrĂ€fte, insbesondere der StĂ€dte. Deren Aufstieg seit der Mitte des 12. Jahrhunderts bleibt begrenzt und fĂŒhrt zu völlig anderen Ergebnissen als in der Toskana. Auch im Piemont gelingt es beispielsweise Asti oder Vercelli, den geschwĂ€chten Landadel zur Wohnsitznahme in der Stadt zu zwingen. Von viel grĂ¶ĂŸerer Bedeutung aber war, dass die Landbevölkerung da und dort neue StĂ€dte grĂŒndete, um sich nach dem wirtschaftlichen Einfluss auch der politischen Herrschaft des Grundherrn zu entziehen. So war die GrĂŒndung Alessandrias gegen den Markgrafen des Monferrato gerichtet, jene Cuneos gegen den Markgrafen von Saluzzo, und die Erbauung von MondovĂŹ richtete sich gegen den Bischof von Asti. Das Besondere war, dass bei diesen StadtgrĂŒndungen Ritter und Bauern zusammenarbeiteten. Die Beteiligung von Bauern war so außergewöhnlich, dass sich der Chronist Iacopo d‘Acqui im 13. Jahrhundert gar zu einer Fehldeutung hinreißen ließ: Er fĂŒhrte den Stadtnamen von Savigliano nicht auf die römische GrĂŒndung als „Salvianum“ zurĂŒck, sondern auf „sapiens villanus“, den „weisen Bauern“. Im Falle von Fossano oder Moncalieri aber handelte es sich tatsĂ€chlich um vollstĂ€ndige NeugrĂŒndungen von Einwohnern kleinerer Siedlungen, die nach dem Umzug bewusst zerstört wurden. So entstand im Piemont ein dichtes Netz kleinerer und mittlerer StĂ€dte, die nicht wie die toskanischen GroßstĂ€dte in der Lage waren, sich die Landschaft zu unterwerfen. Turin war 1415 mit rund 3000 Einwohnern eines der zahlreichen mittleren Zentren, und selbst in den damals grĂ¶ĂŸten StĂ€dten Asti, Vercelli und Alessandria lebten sehr wahrscheinlich kaum mehr als jeweils 10 000 Menschen. Florenz, Siena oder Pisa waren zu dieser Zeit um ein Vielfaches grĂ¶ĂŸer.

Starke Landgemeinden

Schließlich kam es im Piemont zu einem regelrechten Wettbewerb der SiedlungsgrĂŒndungen, an dem sich auch die neuen KleinstĂ€dte und der Landadel beteiligten – freilich mit entgegengesetzten Zielen. Versuchten erstere, ihre noch junge Freiheit abzusichern, ging es Letzterem um die Wahrung seines bisherigen Einflusses. Beide Seiten mussten den Siedlern etwas anbieten: Im Falle der „Villenove“ (neue Dörfer) war dies das Stadtrecht, im Falle der „Borghifranchi“ (freie Burgen) waren es Privilegien. Beides stĂ€rkte die Landbevölkerung gegenĂŒber Adel und StĂ€dten und hatte weitreichende Konsequenzen, denn es brachte die Politik in die Landschaft. Die entstehenden Landgemeinden begannen, sich nach urbanem Vorbild selbst zu organisieren und auch eine Regierung zu wĂ€hlen. Sowohl Patriziat wie Landadel fanden an dieser Emanzipation der Landbevölkerung zwar keinen Gefallen, aber sie zogen sie dem politischen Einflussgewinn der jeweils anderen Seite vor.

Die Revolte der Hundetöter

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte – und manchmal auch ein Vierter. Landgemeinden und Bauern hatten zwar an Entscheidungsspielraum gewonnen, aber im Konzert der MĂ€chtigen vermochten sie nicht mitzuspielen. Denn den Ton gab im Piemont immer entschiedener eine Dynastie an, die von außen kam: das Haus Savoyen. Die Grafen ĂŒbernahmen immer hĂ€ufiger die Rolle als Schiedsrichter in den Abgrenzungskonflikten, was zumeist den Landgemeinden zugute kam. Doch im Konflikt zwischen dem Landadel und den Bauern, der 1383 nach dem Tode seines Vaters ausbricht, scheiterte die Vermittlung Amadeus’ VII von Savoyen. Er verpflichtete die Signori zwar zu „Frieden und Freundschaft“ mit den Landgemeinden, erlegte diesen jedoch die Zahlung einer enormen Summe auf. Das ließen sich die Bauern aber nicht gefallen: Sie erhoben sich, vertrieben die Herren von ihren Schlössern und kamen erst nach fĂŒnf Jahren zur Ruhe, nachdem sie am Runden Tisch maßgebliche Erleichterungen der Adelsherrschaft erstritten hatten. Diese Revolte ist unter dem Namen „Tuchinaggio“ in die Geschichte eingegangen, der vom französischen „Tue chien“ (Hund töten) abstammt: Den Bauern war es unter Androhung schwerer Strafen verboten, die (Jagd-) Hunde der Herren zu töten, selbst wenn diese ein Haustier rissen. Es doch zu tun, war ein Akt des Ungehorsams – und im „Tuchinaggio“ das Signal zum Aufstand. Dass ihn die Bauern wagten und ihn ĂŒber Jahre zum erfolgreichen Abschluss brachten, ist ein Zeichen fĂŒr das Selbstbewusstsein, dass sie bereits zu dieser Zeit erlangt hatten.

Die piemontesische „Cascina“

1559 erklĂ€rt die Gemeinde MondovĂŹ dem verdutzten Emanuele Filiberto von Savoyen, es werde kein BĂŒrger aus zivil- oder strafrechtlichen GrĂŒnden ausgeliefert, selbst nicht im Falle von MajestĂ€tsbeleidigung. Das ist zu viel: Der Herzog schrĂ€nkt ab jetzt die kommunale Autonomie ein. Dabei kommt ihm entgegen, dass sich die Zahl der „MasuĂ©â€œ seit dem 15. Jahrhundert vervielfacht hat und dass diese dank der wachsenden Sicherheit vermehrt auf „Cascine“ genannten Höfen außerhalb der Landgemeinden wohnen. Im Unterschied zu einem toskanischen „Podere“ ist eine „Cascina“ aber in der Regel ein stattliches GebĂ€ude mit einem Hof, um den sich StĂ€lle, Betriebs- und WohngebĂ€ude gruppieren. Indem die „Cascina“ bis zum Ende des 17. Jahrhunderts zur Norm fĂŒr einen piemontesischen Bauernhof wird, zeigt sie trotz zunehmender Differenzierung der Agrargesellschaft den relativen Wohlstand ihrer Betreiber an: Die lĂ€ndliche Elite der „Massari“ wird wie Gutsverwalter respektiert, die Notare sprechen sie mit „Messere“ (Herr) an. So vermögen die Savoyer Herzöge zwar, der Emanzipation der Bauern Grenzen zu setzen, aber ihre soziale Stellung zu untergraben, das gelingt ihnen nicht.

Massenweine und Barolo

Aus diesen GrĂŒnden vermögen die „Massari“ die in dieser Zeit einsetzende Modernisierung der Landwirtschaft vergleichsweise gut zu bestehen. Im westlichen Piemont bieten sich Weizen- und Reisanbau sowie Viehzucht fi nanzkrĂ€ftigen GroßpĂ€chtern als GeschĂ€ftsfeld an. In diesen Gebieten verschwindet das selbstĂ€ndige Bauerntum bis zum 19. Jahrhundert fast ganz und macht einer kapitalistischen Agroindustrie Platz: Immer weitlĂ€ufi gere Höfe werden mit einem Heer von verelendeten Lohnarbeitern betrieben. Den Gegenpol bilden das Berggebiet und abgelegene HĂŒgelzonen, wo eine wachsende Masse von Kleinbauern in armen, aber keineswegs miserablen VerhĂ€ltnissen lebt. Noch Mitte des 18. Jahrhunderts sind mehr als ein Drittel der AgrarflĂ€che des Piemonts Wiesen und Weiden, ein Drittel entfĂ€llt auf Äcker und Reisfelder, die Weinberge machen 13,5 Prozent aus. Der meiste Wein stammt aus Mischkulturen in der Ebene, wo man die Rebe an BĂ€umen oder PfĂ€hlen emporranken lĂ€sst. Er ist von minderer QualitĂ€t, wird jedoch im Überfluss erzeugt und ermöglicht den Massenkonsum: In Turin belĂ€uft sich der Verbrauch auf 250 Liter pro Kopf und Jahr. Zur selben Zeit werden aber auch Barolo und Barbaresco als Ursprungsgebiete bekannt: In den HĂŒgelgebieten stehen spezialisierte Rebberge, und die Weine von dort sind gesucht, da von guter QualitĂ€t.

Leibeigene werden selbstÀndig

Das waren gute Voraussetzungen fĂŒr ein unternehmerisches Bauerntum, wie es die „Massari“ (Leibeigene) waren. Hatte ein Teil von ihnen schon frĂŒher die eigene „Cascina“ erwerben können, kam es um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer eigentlichen „Winzerbildung“. Zum einen fĂŒhrten die Steuerpolitik des piemontesischen MinisterprĂ€sidenten Camillo Benso di Cavour und die Unsicherheiten des Weinmarktes dazu, dass der Adel seine Weinberge den Bauern verkaufte. Zum andern kam auch der Verkauf der Gemeinde- und KirchengĂŒter im Jahre 1855 den selbstĂ€ndigen Bauern zugute. Allein um Alba wurden ĂŒber 3000 Hektar Land verkauft und mit Hilfe eines vom Staat begĂŒnstigten Kreditsystems etwa 1000 neue GrundeigentĂŒmer geschaffen. 1881 war jeder fĂŒnfte mĂ€nnliche Piemontese GrundeigentĂŒmer, ein Anteil, der in keiner anderen italienischen Region auch nur annĂ€hernd erreicht wurde.

Der Unterschied zur Toskana

Doch in ebendiesem Moment wurde auch das Piemont von der ersten grundlegenden Agrarkrise heimgesucht, welche nur ein Vorbote des tiefgreifenden Strukturwandels darstellte, der die Landwirtschaft europaweit bis heute erfasst hat. 2006 lebten gerade mal noch 3,6 Prozent der Piemontesen vom primĂ€ren Sektor. Schon 1977 hatte Nuto Revelli den Erinnerungen an sein Bauernleben im Piemont den Titel „Die Welt der Besiegten“ gegeben – ein letzter Beleg dafĂŒr, dass es im Falle Piemonts tatsĂ€chlich eine „gute alte Zeit“ der wohlhabenden Bauern und selbstĂ€ndigen PĂ€chter gegeben hat. Dies ist der entscheidende Unterschied zur Toskana, wo die HalbpĂ€chter ĂŒber Jahrhunderte unterdrĂŒckt und ausgebeutet wurden: In einem großen Barolo spiegelt sich die Tradition von Bauern wider, die den Wein, die Trauben, die Reben und das Land mit Sorgfalt pflegen, weil es schon lange ihr eigenes ist.

Literatur:
Barbero, Alessandro: Storia del Piemonte. Dalla preistoria alla globalizzazione, Torino: Einaudi 2008.
Ginatempo, Maria: „La mezzadria delle origini. L‘Italia centro-settentrionale nei secoli XIII-XV“, in: Rivista di storia dell‘agricoltura 52 (2002), Nr. 1, S. 49-110.
Buratti, Gustavo: Breve storia del Tuchinaggio occitano e piemontese, Turin: Porfi do 2010

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